Badische Zeitung, 26. November 2010
Text und Bild: Roswitha Frey
Eine Frau erstickt an den Zwängen ihrer Umwelt
Das Theaterstück »Die letzten Stunden der Lydia Welti-Escher« im
Kellertheater der Baseldytschen Bihni in Basel.
Sie war gefangen im goldenen Käfig: Tochter aus reichem Haus, eine vermögende
Dame der besseren Gesellschaft, gebildet, kunstsinnig, eingesperrt im Korsett der
Konventionen und zutiefst einsam und unglücklich. Ein tragisches Frauenschicksal
aus der Belle Epoque. Nicht von ungefähr wird Lydia Welti-Escher (1858–1891) als
eine Art schweizerische Effi Briest oder Anna Karenina bezeichnet. In dem
Theaterstück »Die letzten Stunden der Lydia Welti-Escher« nach Text und Regie von
Christine Ahlborn zeichnet nun die Schauspielerin Satu Blanc das Leben dieser Frau
nach.
Das »bürgerliche Trauerspiel«, wie das dicht inszenierte Kammerspiel im Kellertheater
der Baseldytschen Bihni in Basel im Untertitel heisst, vermittelt ein Psychogramm
dieser empfindsamen Frau, die als Tochter und Erbin des Eisenbahnbarons Alfred
Escher wie eine »Prinzessin« aufwuchs und zeitlebens nach Unabhängigkeit strebte.
Auf der Bühne stehen lediglich ein Sekretär und ein Holzstuhl, auf dem Satu Blanc in
der Rolle der Lydia Welti-Escher sitzt: zerbrechlich, zart, verletzlich, mit blossen
Füssen, sittsam in einem hochgeschlossenen langen Kostüm, aus dem sie sich zu
befreien sucht. In einem Monolog teilt sie dem Publikum ihre Gedanken mit, rollt in
ihren letzten Lebensstunden noch einmal die Geschehnisse auf, die sie am Boden
zerstört zurückgelassen haben. Es ist ein Dezembertag 1891, an dem sich Lydia
Welti-Escher entschliesst, den Gashahn aufzudrehen und sich das Leben zu nehmen.
»Schweigt, ihr Stimmen in meinem Kopf, lasst mich endlich in Ruhe«, sagt sie. Mit
minimalen Mitteln und eindringlichem Spiel, das stets das Innerste, die Emotionen,
Ängste, Seelenqualen und Zerrissenheit dieser Frau in nuancierter Gestik und Mimik
spiegelt, lässt Satu Blanc ein Frauenporträt des ausgehenden 19. Jahrhunderts
entstehen – mehr noch eine Frauentragödie, die viel von der Unterdrückung und der
festgefahrenen Rolle der Frau erzählt. Der Fall Lydia Welti-Escher erregte viel
Aufsehen, ja sogar einen Skandal, und in diesem Theaterstück sind auch
Originalzitate aus dem 2009 erschienenen Buch von Joseph Jung über das Drama
eingebaut.
Schon mit 15 Jahren musste sie einen grossen Haushalt führen, ging ihrem Vater bei
der Arbeit zur Hand, dann heiratete sie den Bundesratssohn Friedrich Emil Welti, ein
grosser Fehler, wie sie später erkannte. Denn sie war nun vollends verstrickt in das
gesellschaftlich festgezurrte Dasein einer Dame der gehobenen Kreise, ein Leben,
das sich nur um Haushalt, Lektüre, Korrespondenz, Klavierspiel und Sticken drehte.
In ihrer Liebesbeziehung zu dem Künstler und »Damenmann« Karl Stauffer findet sie
kurzzeitig das Glück, die künstlerischen Ideale und die Leidenschaft, nach der sie
sich sehnt.
Doch durch Hintertreiben ihres Gatten und dessen Vater wird Lydia Welti-Escher in
eine Irrenanstalt eingewiesen und Stauffer ins Gefängnis geworfen. Wollten die
mächtigen Weltis die unbequeme schwerreiche Lydia gezielt als »überspanntes
Frauenzimmer« mit Hang zum Extravaganten diskreditieren und in der Öffentlichkeit
als geisteskrank hinstellen, um sie loszuwerden? Solche Fragen quälen Lydia Welti-Escher
in ihren letzten Stunden, und Satu Blanc drückt diese inneren Qualen
darstellerisch bezwingend aus: mit dem Zittern der Hände, mit dem Aufreissen des
Mieders, mit den blossen Füssen, die suchend Kreise über den Boden ziehen, mit
Tuchstreifen, die sie sich um den Kopf bindet. Sie kriecht unter den Schreibtisch,
krümmt sich auf dem Boden, zeichnet das Drama einer Frau, die keinen Ausweg
mehr sieht als den Tod, bewegend nach.