Pressespiegel

Hanna (Satu Blanc), die Grenzgängerin, entscheidet sich für Menschlichkeit.

Basler Zeitung, 19. Oktober 2016
Text: Thomas Waldmann

Der Flüchtling ist ein Mensch

»Die Grenzgängerin«, die neue Theaterproduktion von Satu Blanc

Leo versteckt sich im Keller von Hannas Haus. Sie kümmert sich um ihn, macht ihm zu essen, bringt ihm eine Decke. Dann steht er plötzlich oben in der Wohnung, schüchtern, freundlich. Im Radio läuft Musik, sie beginnen zu tanzen. Es wird nicht das einzige Mal sein; und Hanna, die kinderlose Ehefrau, die oft abends allein ist, erlebt mit diesem Leo kurze Glücksmomente.

Ausgerechnet mit Leo. Denn das ist Leonhard Rosenbaum, jüdischer Flüchtling in Riehen, der es im Frühjahr 1945 von Lörrach über die Grenze geschafft hat. Am Stacheldraht hat er sich verletzt; Hanna verbindet ihn erst mal. Dann möchte sie ihn loswerden – aber in seinem Zustand kann, will sie ihn nicht wegschicken. Der »Flüchtling«, den sie laut Gesetz der Polizei ausliefern müsste, ist ein Mensch in Not. Würde man ihn nach Nazideutschland zurückschicken, wie das in jener Zeit oft geschieht, wäre das sein sicherer Tod.

Die Schauspielerin und Historikerin Satu Blanc, die in ihren Einfraustücken jeweils Frauenschicksale ins Zentrum stellt, geht mit diesem Stoff einen Schritt weiter. Hanna, die Deutsche aus Lörrach, die in Riehen mit dem Obergrenzwächter verheiratet ist, wehrt sich nicht nur gegen herrschende Verhältnisse und die laue Ehe. In einer Zeit der Angst, der Verdunkelungsvorschrift, der Versorgungsnot, entscheidet sie sich für Menschlichkeit – trotz der Gefahr, bestraft zu werden. Grenzgängerin in mehrfacher Hinsicht.

Satu Blanc hat genau recherchiert, auch mit Leuten geredet, die jene Zeit als Kinder erlebt haben. Im Gespräch nach der Premiere sagt sie, es gehe ihr weniger um die jüdischen Flüchtlinge als um die innere Zerrissenheit der damals hier lebenden Menschen. Auch den Obergrenzwächter, der Juden zurückweisen muss, seine Pflicht erfüllt, plagt nach der Begegnung mit einem kleinen Jungen das Gewissen. Aber natürlich ist die grausame Lage der Juden präsent. Und ohne dass darauf verwiesen wird, ist spürbar, wie aktuell die Fragen heute sind. Würde man Syrer aufnehmen, notfalls verstecken? Würde man Menschlichkeit über Paragrafen stellen, Gefühl über Politik und Ideologie – wie Hanna?

Grossen Anteil am Gelingen der Produktion hat Regisseurin Colette Studer. Sie habe, sagt Satu Blanc, zwar nicht Einfluss auf die Handlung genommen, aber auf die Bewertung einzelner Szenen, auf die richtigen Töne, die Frage, wann eine Situation in der Schwebe gehalten wird.

Wechsel von Sprache und Gestik

Die Aufführung ist flüssig rhythmisiert, im kleinen Theater Lo Studiolo im Gartenhaus am St.-Galler-Ring 160 werden auch Treppen und eine kleine Galerie genutzt. Satu Blanc hat als Hanna bezwingende Präsenz, schlüpft auch mal in die Rolle der Verdacht schöpfenden Nachbarin und in jene des Grenzwächters – sorgfältig im Wechsel von Sprache und Gestik. Und Leo? Den hört man im Keller rumoren, und wenn er raufkommt, ist es leicht, ihn sich vorzustellen, denn man sieht Satus/Hannas Gesicht an, dass er da ist.

Das Stück beginnt mit dem Frieden am 8. Mai 1945; Leo ist seit dem Morgen verschwunden. Dann wird als Rückblende diese besondere Geschichte erzählt.